Das unbekannte Bindeglied

Familie Colthof

<p>Hochzeitsfeier von Jenny und Nico Zwanenburgh am  4. November 1940. Jenny war die Tante von Chana Colthof.</p>

Hochzeitsfeier von Jenny und Nico Zwanenburgh am  4. November 1940. Jenny war die Tante von Chana Colthof.

<p>Brief mit Handnotizen zu den Bemühungen um Reisepässe</p>

Brief mit Handnotizen zu den Bemühungen um Reisepässe

<p>Das den Familienpass begleitende Schreiben von Konsul Hügli</p>

Das den Familienpass begleitende Schreiben von Konsul Hügli

<p>Beglaubigte Kopie des paraguayischen Passes von Gerda Hirsch</p>

Beglaubigte Kopie des paraguayischen Passes von Gerda Hirsch

<p>Beglaubigte Kopie des paraguayischen Passes von Fried Jacob Hirsch</p>

Beglaubigte Kopie des paraguayischen Passes von Fried Jacob Hirsch

<p>Paraguayischer Originalpass der Familie Colthof</p>

Paraguayischer Originalpass der Familie Colthof

Ich beginne unsere Geschichte mit der Vorstellung der Familie meiner Mutter. Sie stammte aus Zwolle, einer Stadt in der Provinz Overijssel im östlichen Teil der Niederlande. Mein verstorbener Großvater, Samuel Juda Hirsch, war Oberrabbiner der Provinz. Meine Großmutter, Betty Hirsch-Wormser, wurde in Karlsruhe in Deutschland geboren, zog jedoch nach Zwolle, nachdem sie meinen Großvater geheiratet hatte. Sie unterstützte ihn tatkräftig bei seinen rabbinischen Aufgaben und war sehr engagiert in der Gemeinde.

Meine Großeltern hatten zehn Kinder – sieben Töchter, darunter meine Mutter Ella, und drei Söhne. Die Kinder wurden gemäß der jüdischen Tradition erzogen. Die letzte erfreuliche familiäre Feier war das Hochzeitsfest meiner Tante Jenny, die am 4. November 1940 Nico van Zwanenburgh heiratete. Anwesend waren alle Kinder und die Ehepartner der bereits verheirateten Kinder.

Mit dem deutschen Angriff und der Machtübernahme der Nazis zogen schwarze Wolken über den Niederlanden auf. Es wurden harte Maßnahmen gegen die Juden ergriffen. Die Deportation von Juden aus allen niederländischen Regionen, auch aus Zwolle, begann. Einige der Hirsch-Geschwister hatten bereits eigene Familien gegründet, so dass einige von ihnen, darunter auch meine Mutter, in Amsterdam lebten, wo sie an einem aktiveren jüdischen Leben in der Großstadt teilnehmen konnten.

Mit der Zeit mussten sie alle ihre Häuser verlassen und in die Ghettos ziehen, denn so war es für die Nazis einfacher, Deportationen „nach Osten“ zu organisieren. Einige Familienmitglieder beschlossen, unterzutauchen, darunter der älteste Bruder meiner Mutter, Rafael. Leider verrieten die Kollaborateure die Helden, die Rafael und andere Juden versteckten. Es kam oft vor, dass die Verstecke gegen Geld an die örtliche Naziorganisation gemeldet wurden.

Welcher Zusammenhang zwischen den paraguayischen Reisepässen und meiner Familie besteht, möchte ich jetzt erklären. Mein Großvater Samuel Hirsch starb 1941. Meine Großmutter Betty Hirsch-Wormser blieb jedoch mit einigen Kindern in Zwolle, obwohl alle um ihr weiteres Schicksal fürchteten. In Zürich lebten ein Bruder und eine Schwester meiner Großmutter und sie machten sich große Sorgen um sie. Sie waren es, die nach den Geburtsdaten einiger Familienmitglieder fragten, um für sie gefälschte Pässe zu beschaffen, die sie retten könnten.

Erst kürzlich entdeckte der Enkel einer dieser Verwandten in den Papieren seiner verstorbenen Eltern einen Abschiedsbrief vom Mai 1943, der von der Schwester meiner Mutter, Lea, stammte. Sie lebte noch im Haus der Familie in Zwolle. In einem Brief an ihre Schweizer Verwandten beschrieb sie ihre damalige Lage und stellte eine nahe „Reise“ in Aussicht. Sie gab auch im Brief einige Geburtsdaten an, die offenbar für die Ausstellung der Dokumente nötig waren. Die Cousine meiner Mutter tippte später einmal diesen Brief ab und fügte die folgende handschriftliche Notiz hinzu:

[…] Vater, der in der neutralen Schweiz versuchte, Ausländer-Pässe zu besorgen. Für Fam. Ella Colthof und Fam. Fried Hirsch ist dies gelungen. So kamen sie in ein „Vorzugs-Lager“. Das war Bergen-Belsen. Der Enkel fand im Nachlass seiner Eltern auch eine Kopie der Pässe von Fried und Gerda Hirsch, also dem jüngsten Bruder meiner Mutter und seiner Frau – sie heirateten während des Krieges – sowie ein den Pässen beigefügtes Schreiben des Konsuln Hügli.

Nach der Erlangung der paraguayischen Staatsangehörigkeit (die Daten wurden offenbar in die Niederlande übermittelt) wurden meine Eltern Ella und Simon Colthof mit meinem Bruder Samuel und meiner verstorbenen Schwester Esther, meinem verstorbenen Onkel Bentsion und seiner Frau Renee und den Zwillingsmädchen Nettie Judith und Bettie Shulamit gemeinsam deportiert, zunächst in das Durchgangslager Westerbork in den Niederlanden und dann nach Bergen-Belsen. Rafael, der sich in Ostholland versteckt hatte, wurde verraten und ebenfalls nach Bergen-Belsen deportiert. Fried schaffte es, aus dem Deportationszug zu springen und zu flüchten. Auch seine Frau Gerda wurde nach Bergen-Belsen deportiert. Sie trafen sich aber wieder, nachdem sie aus dem KZ befreit wurde. Bedauerlicherweise überlebten weder Rafael noch Bentsion die harten Bedingungen in Bergen-Belsen, noch überlebte meine Schwester Esther Colthof Westerbork.

Meine Mutter erklärte uns immer, dass dank der paraguayischen Pässe, die ihre Onkel aus der Schweiz besorgt hatten, alle Inhaber:innen der Deportation in die Vernichtungslager Sobibor und Auschwitz entgingen. Die Nazi-Behörden waren sehr misstrauisch gegenüber einer so großen Anzahl südamerikanischer Staatsbürger in den Niederlanden, zogen es aber vor, sie als Verhandlungsmasse für einen möglichen Austausch gegen deutsche Kriegsgefangene in Palästina zu behalten.

 

Leider kamen die für meine verstorbene Großmutter Betty Hirsch-Wormser und ihre anderen in Zwolle verbliebenen Kinder und Enkelkinder ausgestellten Dokumente zu spät – sie wurden alle verhaftet, deportiert und in Sobibor ermordet. Das war die Version der Geschichte, die ich kannte, als ich in den Niederlanden aufwuchs.

 

75 Jahre später, in einem ganz anderen Zusammenhang, traf mein in Zürich lebender Neffe Rafi (benannt nach meinem Onkel Rafael) ein Mitglied der Familie Eiss. Er wurde gebeten, seinen Namen zu buchstabieren. Als Rafi seinen Namen buchstabierte, fragte ihn der junge Mann, ob er mit Simon Colthof verwandt sei, denn im Familienarchiv habe er einen auf diesen Namen ausgestellten paraguayischen Pass gesehen. Rafi antwortete: „Das war mein Großvater.“ Nach Verhandlungen wurde der Original-Pass aufgespürt und nach Israel gebracht. Heute ist mein Bruder Samuel das einzige noch lebende Familienmitglied, dessen Daten auf diesem Pass zu finden sind, und so wurde er stolzer Besitzer des Dokuments. Es ist für ihn ein wertvolles Andenken.

 

Etwa zur gleichen Zeit, als der Originalpass entdeckt und an unsere Familie zurückgegeben wurde, wurden wir von Vertretern Polens in der Schweiz zu einer Gedenkfeier an den Mitarbeiter der Konsularabteilung Konstanty Rokicki nach Luzern eingeladen. Wir hatten die Gelegenheit, die Aktivitäten der Ładoś-Gruppe näher kennenzulernen. Wir erfuhren, dass der polnische Botschafter Aleksander Ładoś und sein Mitarbeiter Stefan Ryniewicz eine wichtige Rolle bei der Beschaffung von Pässen südamerikanischer Staaten nicht nur für Jüdinnen und Juden aus Polen, sondern auch für Juden aus anderen Ländern, darunter die Niederlande, spielten. Unsere Onkel waren Mitglieder der gleichen orthodoxen jüdischen Gemeinde in Zürich wie Chaim Eiss und Juliusz Kühl (ein jüdischer Angestellter der polnischen Gesandtschaft in Bern), und so müssen sie von deren Aktivitäten gewusst haben.

 

75 Jahre später ist die Geschichte der Reisepässe meiner Eltern, die ihnen das Leben retteten, endlich vollständig.

 

Chana Colthof

 

Der Artikel ist urheberrechtlich geschützt.