Onkel „Passport“

Arie Liwer

<p>Fünf jüdische Jugendliche besuchen wahrscheinlich eine Bauernfamilie. Das Foto entstand in den 1930er Jahren. Arie Liwer (vorn).</p>
<p><small>Ghetto Fighters’ House Archives, Israel</small></p>

Fünf jüdische Jugendliche besuchen wahrscheinlich eine Bauernfamilie. Das Foto entstand in den 1930er Jahren. Arie Liwer (vorn).

Ghetto Fighters’ House Archives, Israel

<p>Junge Juden, wahrscheinlich Mitglieder der Bewegung Gordonia, in den 1930er Jahren in Polen. Arie Liwer (in der Mitte).</p>
<p><small>Ghetto Fighters’ House Archives, Israel</small></p>

Junge Juden, wahrscheinlich Mitglieder der Bewegung Gordonia, in den 1930er Jahren in Polen. Arie Liwer (in der Mitte).

Ghetto Fighters’ House Archives, Israel

<p>Arie Liwer, Mitglied der Bewegungen Gordonia und Hitahdut in Polen. Das Foto wurde im landwirtschaftlichen Betrieb „Farma“ gemacht, der von der zionistischen Jugendbewegung in Środula bei Sosnowiec geführt wurde.</p>
<p><small>Ghetto Fighters’ House Archives, Israel</small></p>

Arie Liwer, Mitglied der Bewegungen Gordonia und Hitahdut in Polen. Das Foto wurde im landwirtschaftlichen Betrieb „Farma“ gemacht, der von der zionistischen Jugendbewegung in Środula bei Sosnowiec geführt wurde.

Ghetto Fighters’ House Archives, Israel

<p>Ein SA-Mann schneidet einem jüdischen Jungen die Haare ab.</p>
<p><small>Nationales Digitalarchiv</small></p>

Ein SA-Mann schneidet einem jüdischen Jungen die Haare ab.

Nationales Digitalarchiv

<p>Będzin 1933. Im Hintergrund der Turm der Dreifaltigkeitskirche.</p>
<p><small>Nationales Digitalarchiv</small></p>

Będzin 1933. Im Hintergrund der Turm der Dreifaltigkeitskirche.

Nationales Digitalarchiv

<p>Tittmoning. Internierungslager für Kriegsgefangene. Blick in das Lager.</p>
<p><small>copyright International Committee of the Red Cross ICRC, 12/10/1942, War 1939-1945., V-P-HIST-02295-10</small></p>

Tittmoning. Internierungslager für Kriegsgefangene. Blick in das Lager.

copyright International Committee of the Red Cross ICRC, 12/10/1942, War 1939-1945., V-P-HIST-02295-10

<p>Winchester Castle (Schiff)</p>
<p><small>State Library of Queensland</small></p>

Winchester Castle (Schiff)

State Library of Queensland

„Im Namen der Republik Paraguay“. Passnummer 168/42. Inhaber – Arie Liwer, geb. 27. Juli 1906, paraguayischer Kaufmann, dunkle Augen, mittelgroß. Lichtbild unten. Gültigkeit: zwei Jahre.

Dieses Dokument hat das Leben seines Inhabers gerettet.

Wer war Arie Liwer? Welche Geschichte verbirgt sein „Reisepass des Lebens“?

Vor dem Krieg war Arie Liwer Aktivist der linken zionistischen Jugendorganisation Gordonia im polnischen Będzin. Er träumte von einem jüdischen Staat im Eretz Israel (dt. Land Israels) wie viele andere junge Jüdinnen und Juden. Sie organisierten Versammlungen, Vorlesungen, Ausflüge und bereiteten sich darauf vor, nach Palästina auszureisen, um dort als Chaluzim (Pioniere) eine neue Welt für ihre Nation aufzubauen.

Nach Kriegsausbruch verließ Liwer mit anderen Flüchtlingen Będzin in den ersten Septembertagen 1939. Die Stadt Kielce, in der sich seine Eltern aufhielten, erreichte er auf Umwegen, weil er keine Wehrmachtsangehörigen treffen wollte. Er wurde jedoch unterwegs in der Kleinstadt Pińczów von den Deutschen gefasst und mehrere Tage mit einer großen Flüchtlingsgruppe in einer Kirche festgehalten. Die Deutschen drohten ihnen allen mit dem Tod. Nachdem die Wachleute abgezogen wurden, kehrte Liwer mit anderen Polen ins Zagłębie Dąbrowskie (dt. Polnisches Kohlebecken) zurück. Auf seinem Rückweg sah er die Folgen des deutschen Vormarsches: ausgebrannte Häuser, Leichen von Juden und Polen, Spuren von Plünderungen.

Als er in Będzin ankam, waren die Zustände nicht anders. Am 8. September 1939 hatten die Deutschen die Synagoge, in der sich betende Juden versammelt hatten, angezündet. Sie ließen den Brand nicht löschen und erschossen Menschen, die zu fliehen versuchten. Zweihundert Juden wurden lebendig verbrannt.

In den ersten Tagen der deutschen Besatzung in Polen engagierte sich Arie Liwer für die konspirative Sozialarbeit im Untergrund. Er leitete den Verband Brit Hechaluz (Pakt der Pioniere), der Geheimunterricht für die jüdischen Jugendlichen organisierte. Er war Mitbegründer der Gruppe Lakray (dt. Kampf), die Juden aus dem Zagłębie Dąbrowskie auf einen Aufstand gegen die Deutschen vorbereitete. Bis April 1943 gelang es Liwer und seinen Kollegen, mehrere Pistolen zu erbeuten sowie Verstecke und Schutzbunker vor deutschen Angriffen einzurichten. Darüber hinaus leitete Liwer ein landwirtschaftliches Arbeitslager, das vom Judenrat im Zagłębie Dąbrowskie gegründet wurde. Es wurde jedoch schnell von Zionisten übernommen und in eine Art Kibbuz umgewandelt. Juden, die dort beschäftigt waren, wurden seltener deportiert, sie bekamen auch eine bessere Verpflegung als im Ghetto. Von den deutschen Behörden wurden die landwirtschaftlichen Arbeitslager toleriert. Sie befanden sich außerhalb des Ghettos und niemand wunderte sich, dass die Juden täglich durch die nicht für sie bestimmten Stadtviertel gingen.

Im Spätsommer 1942 wurde es jedoch gefährlich, sich außerhalb des Ghettos zu bewegen. Immer wieder wurden Menschen von den Deutschen festgenommen und in Vernichtungslager deportiert. Im Februar 1943 musste Liwer den landwirtschaftlichen Betrieb verlassen und ins Ghetto in Będzin (damals Bendsburg) im Stadtviertel Środula ziehen.

Die von Monat zu Monat härter werdende Besatzungspolitik gegenüber der jüdischen Bevölkerung beobachtete Liwer aufmerksam: Straßenmorde am helllichten Tage, Zwangskennzeichnung am Arm mit dem Judenstern, überall Hunger. Bereits im Frühjahr 1940 kam er bei einem konspirativen Treffen zum Schluss, dass die Deutschen das gesamte jüdische Volk vernichten wollen.

Die Verschwörer aus Bendsburg erhielten noch im selben Jahr einen Brief von einem gewissen Natan Szwalb aus der Schweiz. Tante „Certificate“ und Onkel „Passport“ wollten Geburtstagsgeschenke überreichen. Liwer und seine Freunde nahmen es jedoch nicht ernst.

Alles änderte sich im Herbst 1942, als Natan Eck aus Tschenstochau ankam. Abraham Silberschein, Mitbegründer des RELICO-Komitees (einer Hilfsorganisation für die jüdischen Kriegsopfer) aus der Schweiz, sandte Eck den Reisepass von Paraguay zu. Eck bereitete sich auf seine Ausreise vor und regte auch andere Juden aus Bendsburg dazu an, für sich Reisedokumente zu beantragen. Die Reisepässe wurden von den Mitarbeitern der polnischen Gesandtschaft in Bern besorgt. Die ganze Aktion war geheim und die Ghettobewohner aus dem Zagłębie Dąbrowskie wussten nicht einmal, dass der polnische Staat versuchte, seine Bürgerinnen und Bürger zu retten.

Eck wurde bald verhaftet. Arie Liwer erhielt von ihm nach einiger Zeit einen Brief aus dem Internierungslager, in dem stand, dass er dort in Sicherheit sei. Für die Juden in Bendsburg war es die Bestätigung, dass sie mit den Pässen tatsächlich eine Chance hatten, aus dem Ghetto zu entkommen.

Um die Zensoren zu verwirren, wurden Briefe und Postkarten, die in die Schweiz geschickt wurden, um Pässe zu beantragen und denen Fotos beigefügt waren, auf Deutsch geschrieben, in einem vertrauten Ton, als wären sie an entfernte Verwandte gerichtet. Es gab mehr Antragsteller als Reisepässe. Irgendjemand musste sie zuerst bekommen. Die Mitglieder der zionistischen Organisationen entschlossen sich, das Schicksal der im Ghetto internierten Landsleute zu teilen. Sie beantragten Pässe für lediglich zwei Mitglieder aus jeder Organisation. Unter ihnen befand sich Liwer, der im März 1943 einen paraguayischen Reisepass erhielt.

Der Reisepass kam zu einem geeigneten Zeitpunkt an, denn Liwer wurde am 21. April 1943 verhaftet. Er übergab seinen Pass über den Judenrat an die Gestapo. Er verbrachte einige Tage im Gefängnis ohne zu wissen, was mit ihm weiter passieren würde. Endlich fiel der Beschluss, „den Ausländer“ zu internieren. Vor seiner Ausreise versuchte Liwer noch, mehrere Reisepässe nach Tschenstochau zu bringen, aber ohne Erfolg. Er verabschiedete sich von seiner Familie, die mit zehn Personen im Stadtviertel Środula in einem kleinem Raum mit Küche untergebracht war. Doch von seinem Abschiedsbesuch kehrte er später zurück als mit dem deutschen Gefängniskommandanten vereinbart worden war. Dieser verprügelte den jüdischen Polizisten, der Liwer bewacht hatte und beschimpfte den Gefangenen selbst. Der Deutsche kam mit der Situation nicht zurecht, dass er einen Juden nur deshalb nicht verprügeln konnte, weil dieser über einen „amerikanischen Reisepass“ verfügte.

Als Liwer und andere Inhaber von Reisepässen am Morgen des nächsten Tages im Bus saßen, der sie zum Bahnhof bringen sollte, schnaubte derselbe Deutsche: „Vergiss bloß nicht, mir Kaffee zu senden…“.

Am 14. Mai 1943 kam der „paraguayische Kaufmann“ Liwer in das Internierungslager im bayerischen Tittmoning, wo er Natan Eck traf. Denselben, der ihn früher dazu anregte, einen Reisepass zu beantragen. Von Tittmoning wurde Liwer ins Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert, wo er im Teil für internierte Ausländer festgehalten wurde und auf einen Austausch gegen deutsche Bürger aus den alliierten Staaten wartete. Im Februar 1945 wurde Liwer im Rahmen eines Austausches gegen Deutsche, die von den Briten festgehalten wurden, nach Nordafrika gebracht.

Arie Liwer konnte trotz seines schwierigen Kriegsschicksals seinen Traum von Palästina erfüllen. Am 10. September 1945 kam er mit dem Schiff Winchester Castle in Eretz Israel an.